Der folgende Beitrag enthält meinen Vortragstext zur Vorstellung des Forschungsprojektes. Die gut besuchte Veranstaltung fand am Montag, dem 27. Juni 2022 in der St. Matthäus-Kirche, St. Matthäi-Kirchplatz, Berlin, statt.
Liebe Gäste, ich stelle Ihnen heute Abend unser Projekt zur Erforschung von Berlin-Brandenburgischen Unternehmergräbern vor. Mein Vortrag gliedert sich in drei Teile:
(1) Wie kam es zu diesem Projekt und wie ist es konstruiert?
(2) Wie ist das Projekt inhaltlich aufgebaut?
(3) Und – das Wichtigste – welche Ziele verfolgt das Projekt? Welche praktischen Ergebnisse wollen wir der Weltöffentlichkeit präsentieren?
(1) Als ich vor etwa 2 Jahren mit Herrn Berghausen zusammensaß, um über die Fotoausstellung zur Industriekultur in Reinickendorf zu sprechen, erzählte ich ihm auch von meiner Begeisterung für Friedhöfe im Allgemeinen und Berliner Friedhöfe im Besonderen, von denen schon ich einige besucht hatte. Und Herr Berghausen erzählte mir davon, dass er gerne einmal Unternehmergrabmale aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert sozialhistorisch erforschen lassen möchte. Ob mich das interessiere und ob ich dazu mal etwas konzipieren wolle, fragte er. Ja, sagte ich, ich will.
Also habe ich mir Gedanken gemacht und eine Konzeption für ein Unternehmergräberprojekt entwickelt. Das Berlin-Brandenburgische Wirtschaftsarchiv hat für dieses Projekt bei der Deutschen Lotto Stiftung Berlin Fördergelder beantragt. Die Laufzeit des Projektes beträgt 36 Monate. Ich werde in dieser Zeit temporäre Mitarbeiterin des Wirtschaftsarchivs sein. Die Lotto Stiftung erwartet, dass wir einen Eigenanteil beisteuern. Um die Wichtigkeit des Projektes_ und die Ernsthaftigkeit unseres Anliegens zu zeigen, haben wir uns daher entschlossen, heute öffentlich aktiv zu werden. Mit dieser Veranstaltung. Wir wollen Spenden sammeln. Von Ihnen.
(2) Im Folgenden werde ich zunächst auf die noch junge Würdigung der deutschen Friedhofskultur durch die UNESCO eingehen, dann über diejenige Gesellschaftsgruppe sprechen, die im Mittelpunkt des Projektes steht – die Unternehmer nämlich, anschließend kurz die historische Forschung beleuchten, und sodann ins Zentrum der Untersuchung vorstoßen, nämlich zu den Grabstätten der Unternehmer. Anschließend erläutere ich Ihnen die Vorgehensweise der Untersuchung.
Im März 2020 hat die Kultusministerkonferenz auf Empfehlung der Deutschen UNESCO-Kommission die Aufnahme der Friedhofskultur in Deutschland in das Bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes beschlossen. Das Erbe umfasst Bestattungspraxis und Erinnerungsrituale ebenso wie künstlerisch-handwerkliche Techniken. Es beinhaltet die „lebendigen Ausdrucksformen, die von menschlichem Wissen und Können getragen, von Generation zu Generation weitervermittelt und stetig neu geschaffen und verändert werden“. Immateriell heißt „nicht materiell“ oder auch „nicht anfassbar“. Das Materielle gilt demnach als „flüchtig“.
Die Mausoleen der beiden Unternehmerfamilien Jordan und Borchardt sind anfassbar. Noch, möchte ich hinzufügen, denn sie sind in einem stark baufälligen Zustand. Immaterielles und Materielles gehören jedoch zusammen. Denn wo keine Materie mehr ist, kann auch nix Immaterielles mehr wirken. Immaterielles und Materielles bedingen einander. Immaterielles Erbe, so unsere These, benötigt eine erlebbare, materielle Hinterlassenschaft, um existent zu bleiben. Gleichwohl unterliegt auch das Materielle einem ständigen Wandel, und gerade das wollen wir in unserem Projekt untersuchen.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Berlin, seit 1871 Hauptstadt des Deutschen Reiches, zum größten Industriezentrum Deutschlands. Träger dieser Entwicklung waren vor allem der Maschinenbau und die Elektroindustrie. Davon zeugen noch heute klangvolle, auch überregional bekannte Namen wie Borsig, Schwartzkopff oder Siemens. Die Finanzierung des industriellen Wachstums wurde geleistet von den Privatbankhäusern der Bleichröder oder Mendelssohn und den Bankiers Fürstenberg, von Gwinner oder Hansemann. Die Attraktivität der Stadt und die wachsende Konsumfreude zeigten sich in Hotels und gehobener Gastronomie eines Adlon oder Kempinski sowie in großen Warenhäusern eines Wertheim oder Hertzog. Hier, ganz in der Nähe dieser Kirche, wo das alte Tiergartenviertel lag, wohnten viele dieser Unternehmer.
Unternehmer zählen zu den herausragenden Persönlichkeiten einer Epoche. Industrielle, Bankiers, und Kaufleute, aber auch Gewerbetreibende und Freiberufler nehmen in der Gesellschaft eine besondere Stellung ein. Denn Unternehmer sind „Schrittmacher“ des ökonomischen, gesellschaftlichen und technischen Strukturwandels. Sie dominieren die volkswirtschaftliche Wertsteigerung. Sie prägen geografische und gesellschaftliche Räume. Unternehmer beeinflussen auch politische Entscheidungen. Von ihrem großen Reichtum und ihrem politischem Einfluss können sie aber nichts mit ins Grab nehmen. Doch wie ihr Grabmal aussehen soll, ist für viele bereits zu Lebzeiten eine wichtige Frage.
Unternehmergräber gehören zu den imposantesten Grabanlagen eines Friedhofs. Besonders viele von ihnen finden wir auf den Friedhofkomplexen an der Bergmannstraße in Kreuzberg und vor dem Halleschen Tor am Mehringdamm sowie dem Alten-St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg und auf den Jüdischen Friedhöfen in Weißensee und an der Schönhauser Allee. Brandenburg bietet vor allem mit dem Südwestkirchhof in Stahnsdorf eine besonders sehenswerte Begräbnisstätte in der Region.
Grabmalarchitekturen renommierter Baumeister wie Bruno Schmitz (1858–1916) oder Friedrich Hitzig (1811–1881) und figurativer Schmuck berühmter Repräsentanten der Berliner Bildhauerschule wie Friedrich Drake (1805–1882) oder Walter Schott (1861-1938) schufen hier beispielhafte Zeugnisse deutscher Kulturgeschichte. Die Grabmale bekannter und vieler, heute kaum noch bekannter, aber nichts desto weniger bedeutender Unternehmer und Unternehmerfamilien, sind als materieller Überrest erhalten. Doch wertvolle Materialien oder die künstlerische Qualität von Bauwerken und Skulpturen allein sind noch keine Garantie für eine Wertschätzung – wie die eingangs gezeigten Beispiele von Borchardt und Jordan vor Augen führen. Und dies, obwohl Grabmale seit langem Gegenstand intensiver kunsthistorischer Forschungen und denkmalpflegerischer Betreuung sind.
Im sozialhistorischen Kontext thematisiert die Geschichtswissenschaft künstlerisch hervorragende Grabmale im Rahmen der Bürgertumsforschung. Hier gilt das Grabmal lediglich als Ausdruck der schichtenspezifische Selbstvergewisserung und der sozialen Abgrenzung. Es spiegele die Wohlhabenheit und den herausragenden gesellschaftlichen Status des Verstorbenen. Die Grabmale seien auf Außenwirkung angelegte „Privatdenkmale“, inszeniert für ein Publikum, dass „sinnierend“ über den parkartig gestalteten Friedhof „flaniere“.
Nach unserer Wahrnehmung wollen sich Unternehmergrabmale jedoch nicht in diese etwas eindimensionale Beurteilung einfügen.
Und daher zeige ich Ihnen jetzt einige Beispiele für den Variantenreichtum von Grabmalformen, Grabstättenbelegung und Grabmalbeschriftung:
Es gibt den einfachen Grabstein wie für Wall und Schering, der uns in unterschiedlichen Zeiten in verschiedenen Ausprägungen entgegentritt, oder den kompakten Quader wie bei Bleichröder und Duncker, sowie die hohe Stele, die beim Zirkusbesitzer Renz, links, als Obelisk für die Vorderansicht ausgerichtet ist, beim Bankier von der Heydt auf Stufen steht, stärker gegliedert und verziert ist und für die Rundumsicht gebaut wurde. Es gibt die gemauerte, offene Anlage, mal in kleiner und eckig, wie beim Warenhausbesitzer Wertheim, mal in großer Ausfertigung und im umarmenden Halboval, wie beim Gastronomen Adlon. Ferner gibt es das Wandgrab, das mal plastischer, wie beim Steinmetz Schleicher oder mal flacher, wie beim Verleger Ferdinand Springer, gestaltet sein kann. Und es gibt auch das Wandgrab in der „Breitwandversion“ für zahlreiche Familienangehörige – hier die Familie Dankberg. Des Weiteren haben wir das hermetisch abgeriegelte Mausoleum, das wir hier in zwei recht unterschiedlichen Ausprägungen sehen, zwischen denen gut 100 Jahre liegen: Fabrikant Siekerka und Bankier Oppenfeld. Und schließlich nenne ich die Monumentalgrabstätte Hansemann und Gilka, die so groß ist, dass sie man auf einem Foto allein gar nicht abbilden kann.
Die Grabstätten unterscheiden sich auch durch ihre Belegung: mit einer Einzelperson, einem Paar oder einer Familie. Die Grabstätten weisen zudem verschiedene Beschriftungen auf: Das eine „Extrem“ ist die Konzentration allein auf den Familiennamen. Auf der anderen Seiten sehen wir die Namen zahlreicher Verstorbener mit Geburts- und Todesdaten, Herkunfts- und Sterbeorten sowie Berufsbezeichnungen und verliehenen Titeln.
Doch warum ist die Betrachtung von Unternehmergräbern für die Öffentlichkeit, für uns Alle so interessant? Weil wir nach den Gründen für die unterschiedlichen Formen, die Belegung und Beschriftung von Grabmalen fragen. Weil wir die Unternehmergrabstätten unter sozialhistorischen und mentalitätsgeschichtlichen Aspekten befragen. Weil das ist innovativ ist, denn auf diese Art und Weise sind die Grabmale noch nie systematisch untersucht worden. Weil die Ergebnisse dieser Forschungen die Wirtschaftshistorie bereichern und der Berliner und Brandenburger Kulturlandschaft ein neues, vielgestaltiges Erkenntnisfeld liefern werden.
Der Zeithorizont unserer Untersuchung umfasst vorrangig das 19. und frühe 20. Jahrhundert. Also den historischen Zeitraum, indem sich die Industrialisierung in Deutschland entfaltet hat und die industrielle Gesellschaft entstanden ist. Zum einen wollen wir zahlreiche grabstättenbezogene Fragen klären wie die Wahl des Standortes, die Auswahl der Künstler, der Anlass für die Beauftragung des Grabmals oder die Gründe für die konkrete Gestaltung. Ferner spielen auch externe Einflussfaktoren wie Friedhofsregelungen eine Rolle. Des weiteren sind unternehmerbezogene Bezüge zu ermitteln. Dabei schauen wir nicht allein auf die männlichen Unternehmer, sondern betrachten die gesamte jeweilige Unternehmerfamilie im Hinblick auf ihre familiären Verbindungen, ihre sozialen und politischen Aktivitäten und ihre geschäftliche Bedeutung. Es werden Unternehmer innerhalb einer Branche verglichen – das ist der zeitliche Längsschnitt. Und auch branchenübergreifend – das sind die Zeitgenossen. Entscheidend sind die Unternehmer als soziale Gruppe. Gleichwohl geht es im Einzelfall auch in die Tiefe.
(3) Welche Ziele verfolgen wir nun mit unserem Projekt? Es sind drei Zielpakete: nämlich Präsentationen, Vermittlungsaktivitäten und Forschungsergebnisse. Es wird 2 öffentliche Fotoausstellungen geben, jeweils zur Vorstellung der Zwischen- und der Abschlussergebnisse des Projektes. Zwischen- und Abschlussergebnisse werden zudem in Fachzeitschriften veröffentlicht. Überdies wird eine handliche Publikation namens „Unternehmergräberführer“ erscheinen. Es werden Video-Podcasts gefertigt, in denen exemplarische Unternehmergrabmale vor Ort vorgestellt werden. Die wichtigste Präsentations- und Vermittlungsplattform wird eine Internetpräsenz sein, mit der die Öffentlichkeit dauerhaft Zugang zu allen Daten, Biografien, Grabmalen, Fotos und den Forschungsergebnissen erhält. Hierin wollen wir alle Informationen und Erkenntnisse, die bislang nur verstreut vorliegen, bündeln und mit anderen Grabstätten-Websites verknüpfen. Ziel ist es, die Vernetzung mit anderen Kulturgutvermittlern zu erleichtern und die Allgemeinheit zum interaktiven Mitmachen aufzurufen.
Wir werden Forschungsergebnisse in vielerlei Hinsicht erhalten: Zur Typologie möchten wir die Frage beantworten: Sind Gruppenbildungen trotz der vielfältigen Merkmale, die eine Grabstätte aufweist, möglich? Hängen also diese Merkmale (Form, Belegung, Beschriftung, Gestaltung der Grabmale) bspw. von der Branche, der sozialen Herkunft oder der Konfession des Unternehmers ab? Zur Periodisierung soll die Untersuchung klären, ob der wirtschaftliche Wandel von der Früh- zur Hochindustrialisierung Einfluss auf Größe, Stil und Pracht der Grabmale hat. Ebenso soll festgestellt werden, welches Gewicht dem revolutionären Umbruch der politischen Verhältnisse nach dem Ende des Ersten Weltkrieges für die Grabmalausstattung zukommt.
Auch Fragen nach dem Wandel der Konventionen, des Gedenkens und der Reaktionen der Zeitgenossen auf die Grabmale sollen beantwortet werden. Im Hinblick auf Unternehmer als soziale Gruppe wollen wir mit umfangreichen Datenerhebungen zum verwandtschaftlichen, freundschaftlichen, kommerziellen und gesellschaftlichen Umfeld Erkenntnisse über soziale Beziehungen vorlegen, die in dieser Zusammenschau bisher noch nicht präsentiert wurden. Außerdem möchten wir heute vergessene, aber bedeutende Unternehmer und Unternehmerfamilien in die Gegenwart holen und ihre Leistungen, Innovationen, Erfindungen ins rechte Licht setzen. Ferner möchten wir feststellen, in welcher Weise sich Persönlichkeit, Haltungen und Werte von Unternehmern und ihren Angehörigen in ihrer letzten Ruhestätte widerspiegeln.
Berliner Friedhöfe sind Freilichtmuseen. Sie beherbergen Schätze, die es verdienen, bewahrt, erforscht und vermittelt zu werden. Diese Schätze sind die Grabmale, die steinernen Dokumente unserer Stadtgeschichte. Mit ihrer Präsenz laden sie ein zur Auseinandersetzung mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Machen wir sie zu Subjekten außerschulischen Lernens und wissenschaftlicher Forschung! Erkunden wir an ihnen Fragen zur Identität der Stadtgesellschaft und ihres Wandels in den letzten 200 Jahren! Voraussetzung dafür ist es, dem fast 50 alten Appell des damaligen Direktors der Skulpturengalerie, Peter Bloch, zu folgen und von den Zeugnissen großartiger Baukunst „zu retten, was noch zu retten ist“. Ein wichtiges Ziel unserer Untersuchung ist es daher, auf wissenschaftlicher Grundlage für die Rettung und Sanierung von Grabmalen zu sensibilisieren und so dem Kulturgutverlust entgegenzuwirken.
Das Forschungsprojekt ist konzipiert. Nun fehlt nur noch ein kleiner Teil der finanziellen Förderung. Und wir hoffen, dass der heutige Abend Sie, meine Damen und Herren, animiert, unser Projekt zu fördern.
Fotos der Grabmale: Ute Pothmann
Foto der Vortragenden: Jo Berghammer, facegarden
Das Programm das Veranstaltung finden Sie hier: Programmflyer