Dr. Jörg Kuhn ist einer der wichtigsten Ansprechpartner für Friedhöfe im Berlin-Brandenburgischen Raum. Bei der Veranstaltung „Unternehmergräber erforschen – Weltkulturerbe retten“ am 27. Juni 2022 in der St. Matthäus-Kirche, Berlin, stellte Kuhn, Kunsthistoriker und wissenschaftlicher Referent beim Evangelischen Friedhofsverband Berlin Stadtmitte im Bereich Archiv und Denkmalschutz, unter dem Titel „Grabdenkmäler jüdischer Unternehmerfamilien“ ausgewählte Beispiele des Jüdischen Friedhofs Berlin-Weißensee vor. Ich freue mich sehr, hier seinen Vortragstext einschließlich einiger Abbildungen veröffentlichen zu dürfen.
Sehr geehrter Herr Berghausen, sehr geehrte Frau Dr. Pothmann ,
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Zuhörende,
Berlin verfügt über eine einmalige Friedhofslandschaft. Innerhalb der Metropolen Europa steht die Hauptstand Deutschlands hier mit etwa 85 als Gartendenkmale eingetragenen Begräbnisplätzen ganz einmalig da.
Die deutsche Wirtschaftsmetropole in der Kaiserzeit und der Weimarer Republik bot erfolgreichen Unternehmerdynastien Raum zur geschäftlichen und gesellschaftlichen Entfaltung. Diese Bedeutung Berlins spiegelt sich auf den Friedhöfen in glanzvollen Grablegen wieder. Die beiden Weltkriege, die beiden Diktaturen und die lange Vernachlässigung des sepulkralen Erbes haben den Denkmalbestand erheblich dezimiert. Und doch ist außerhalb der Friedhöfe kaum eine Denkmalgattung so dicht und qualitätvoll erhalten geblieben, wie hier. Friedhofsfreunde und Forschende kommen aus allen Teilen der Welt, um diesen Schatz zu bewundern.
Eine erhöhte Aufmerksamkeit erhalten dabei die Jüdischen Friedhöfe Berlins. Darunter im besonderen Maße der 1827 eröffnete Jüdische Friedhof an der Schönhauser Allee in Prenzlauer Berg und der 1880 eröffnete Jüdische Friedhof in Weißensee. Beide Ruhestätten bergen historisch und kunsthistorisch bedeutende Grabanlagen. Sie zeugen von der kulturellen und wirtschaftlichen Bedeutung jüdischer Unternehmerfamilien im Kaiserreich und der Weimarer Republik. Die innerhalb des Judentums wirksame Unantastbarkeit der Totenruhe hat zum Erhalt dieser Friedhöfe grundlegend beigetragen. Ergänzend hat sich ein Friedhofsarchiv mit über 300.000 Einzeldokumenten erhalten. Auch dieses ist ein einmaliger Schatz für Angehörige und Forschende.
Die Regeln jüdischer Bestattungskultur sahen im Übrigen einen solchen Grabluxus, wie er auf den beiden Friedhöfen des 19. Jahrhunderts betrieben wurde, nicht eigentlich vor. Die antiken Prunkgräber im Kidrontal bei Jerusalem bildeten auch damals schon eine Ausnahme. Alle Mitglieder der Jüdischen Gemeinde sollten nach ihrem Tod schnell, schlicht und gleichberechtigt unter die Erde gebracht werden. Eine intensive Grabpflege gehörte bei aller Ehrerbietung den Toten gegenüber eben nicht zu den bestattungskulturellen Bestimmungen. Das Grab gehört seinen Toten und soll nicht dem Vergnügen der Lebenden dienen. In Weißensee gab es dagegen von Beginn an eine große Gärtnerei und auch das Verbot Porträts der Verstorbenen an den Grabzeichen anzubringen, ließ sich in Weißensee nicht immer durchsetzen.
Doch bereits auf dem ersten Friedhof der gegen 1672 begründeten Neueren Jüdischen Gemeinde in Berlin, gab es prächtige Sandsteinstelen, deren Gestaltung formal an Thoraschreine und andere synagogale Ausstattung anknüpften.
Die 1812 mit königlichem Dekret angeordnete „Verbürgerlichung der Juden im Königreich Preußen“ und weitere Maßnahmen des Staates zur weitgehenden Abschaffung der diskriminierenden Sondergesetzte schuf die Voraussetzung für grundlegende Änderungen für die Juden Berlins. Die rasante Bevölkerungsentwicklung betraf im besonderen Maße auch die Jüdische Gemeinde. Es kam zu einem raschen Anwachsen der jüdischen Bevölkerung. Zu den Neubürgern gehörten nicht wenige Kaufleute, Händler und Fabrikanten aus den deutschen Ostprovinzen. Zugleich schufen neue Gesetzte zur Förderung der Wirtschaft und der Abbau veralteter Strukturen im Wirtschaftsleben zu einer Industrialisierung Preußens. Jüdische Unternehmer nutzten die neuen Möglichkeiten zur Entfaltung. Und schufen sich sichtbare Zeichen des erreichten Wohlstandes. Zur repräsentativen Ausstattung der Geschäftslokale und Wohnungen kam bald die Einrichtung von stolzen Grablegen.
Die Mehrzahl der Juden und Jüdinnen in Berlin ließen sich rituell vorschriftmäßig in Grabreihen beisetzen. Die gen Jerusalem ausgerichteten Grabzeichen weisen bei allen Varianten im Detail doch eine große gestalterische Homogenität auf. Die noch in Weißensee anzutreffenden klassizistischen Sandsteinstelen wurden nach der Reichsgründung von 1871 durch größere Grabsteine aus polierten Hartgesteinen abgelöst. Die 1859 eingeführte Gewerbefreiheit betraf auch die Grabsteinhandlungen und führte zu einer gehobenen Massenproduktion. Analog zur Entwicklung auf den christlichen Friedhöfen, deren Anlage seit dem frühen 19. Jahrhundert sich gestalterisch stark am italienischen Campo Santo Pisaner Prägung orientierte, haben sich aber gerade auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee entlang der Einfassungsmauern, entlang der Wege und an den abwechslungsreich konturierten Plätzen prachtvolle Grabbauten erhalten. Nicht wenige sind Erbbegräbnisarchitekturen auf christlichen Friedhöfen ähnlich und es waren nicht selten christliche Architekten, die mit dem Entwurf beauftragt wurden. Zu den Kostbarkeiten zählen gerade jene Grabmäler, die, unabhängig vom religiösen Bekenntnis der Künstler, traditionelle jüdische Grabgestaltungen überzeugend integrieren oder im besten Sinne neu interpretieren.
Verpflichtung zur Rettung
Der überlieferte Bestand an Grabmälern stellt Friedhofsträger und Denkmalpflege vor erhebliche finanzielle Probleme. Der Wille zum Erhalt drückt sich in der Bewertung als National wertvolles Kulturgut und als Weltkulturerbe aus. Das Engagement der Berliner Denkmalpflege, der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, des Fördervereins Jüdischer Friedhof Weißensee und des Vereins Denkmal an Berlin haben mit Hilfe von Lottogeldern, von Mitteln staatlicher und kommunaler Geldgeber und privater Spender in der Vergangenheit schon vieles Gute bewirkt. Und doch: es bleibt noch ungeheuer viel zu tun.
Um Ihnen die kulturelle Kostbarkeit gerade der Unternehmergrabstätten vor Augen zu führen, nun davon einige ausgewählte Beispiele:
1) Die Grabanlage der Familie Lewinsohn und Netter (Cécilie Lewinsohn geb. Netter/Clara Netter geb. Bloch)
1893 starben nach dem Genuss verdorbener Austern zwei junge Frauen und Mütter kleiner Kinder an Unterleibstyphus. Die beiden trauernden Witwer, der Apotheker Dr. Jakob Lewinsohn (Berlin 1860-1938 Berlin-Charlottenburg) und der badische Stahlindustrielle und Gemeindefunktionär Carl Leopold Netter (Bühl bei Baden 1864 – 1922 Baden-Baden), ließen vom Kunstschmied Marcus Fabian eine Rosenlaube aus Grabmal errichten. Kunstvolle Traubaldachine und Laubhütten standen vermutlich bei der Gestaltung Pate. Die Wiederherstellung erfolgte 2000 bis 2002 (und kostete mehr als 100.000 Euro). Nach 20 Jahren sind hier erste Ertüchtigungen der Schutzanstriche dringend notwendig.
2) Die Grabanlage der Familie Mosse
Der Verlagsbuchhändler, Inhaber einer Annoncen-Expedition, Zeitungsverleger und Rittergutsbesitzer Rudolf Mosse (Grätz/Posen 1843-1920 Gut Schenkendorf, Mark Brandenburg) stammte aus einer vielköpfigen Familie mit acht Söhnen und sechs Töchtern.
Rudolf Mosse ließ 1884 durch die Architekten Gustav Ebe und Julius Benda, die auch das repräsentative Mosse-Palais am Leipziger Platz verantwortet hatten, eine Grabhalle in Tempelform entwerfen. Die bis 1886 erfolgte Ausführung übernahm die christliche Steinmetzfirma M. L. Schleicher & Sohn. Die formale Nähe zum Mausoleum der Königin Luise im Park von Schloss Charlottenburg ist mit Sicherheit gewollt. 1888 wurde hier auch die Mutter der Mosse-Geschwister, Ulrike geb. Wolff (1813-1888), Tochter eines Schnapsfabrikanten, beigesetzt. Einmalig in dieser Form ist die Ausbildung einer Art Familienfriedhof innerhalb des Gesamtfriedhofs der Gemeinde. Die Brüder und teilweise auch die Schwestern ließen sich gegenüber dem Grabmal des erklärten Clan-Chefs Rudolf – und der gemeinsamen Mutter Ulrike – beisetzen. 18 Familienmitglieder fanden hier bis 1940 ihre letzte Ruhestätte.
Sie sehen die zusammen errichteten Grabmale der Familien von Emil Mosse (1854-1911, Verlagsbuchhändler), Paul Mosse (1849-1920, Wäschehändler) und Theodor Mosse (1842-1916, Wäschehändler). Der Entwurf stammt von Stadtbauinspektor und Schüler Alfred Messels, Walther Schilbach (gest. 1955).
3) Die Grabanlage der Familie Aschrott
Der Geheime Kommerzienrat, Immobilienentwickler, Leinenfabrikant und Bankier Sigmund Aschrott (1826-1915 Berlin), der seinen Wirkungsschwerpunkt fast lebenslang in Kassel gehabt hatte, wo er ein ganzes Stadtviertel samt Kirchen, Krankenhäusern und einem veritablen Park realisierte, übersiedelte 1885 nach Berlin über. Seine 1890 in Wien verstorbene Frau Anna geb. Hertz ließ Aschrott 1894 nach Berlin überführen.
1903 entwarf der Architekt Bruno Schmitz, Schöpfer des Leipziger Völkerschlachtdenkmals, dem Kyffhäuserdenkmal, dem Deutschen Eck in Koblenz und der Porta Westfalica in Aschrotts Auftrag ein Mausoleum für den Friedhof in Weißensee. Hier gaben die schon erwähnten spätantiken Grabbauten aus dem Kidrontal bei Jerusalem die formalen Vorbilder ab. Im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt und seines Eingangsgitters beraubt gehört das 1996 mit Mitteln der Stadt Berlin und des Bundes restaurierte Mausoleum zu den größten Grabbauten Berlins.
4) Die Grabanlage der Familie Panowsky
Der Bankier Eugen Panowsky (Tarnowitz, Oberschlesien 1855 – 1922 Berlin) war als unbesoldeter Stadtrat in den Magistrat von Berlin gewählt worden und stand dort der Hochbaudeputation vor. Eine seiner Aufgaben dort war die Bewahrung Berlins vor „Verunstaltungen“. Freundschaftlich verbunden war er mit Berlins „Chefarchitekten“ Ludwig Hoffmann (1852-1932), der von 1896 bis 1924 als Berliner Stadtbaurat wirkte. Der Renaissancekenner Hoffmann, innig befreundet und verschwägert mit Alfred Messel, schuf mit dem Grabmal Panowsky ein Ideal an bürgerlicher Vornehmheit voller gutproportionierter Eleganz.
Durch die gleichmäßige Reihung der Inschriftentafeln erreichte er zudem eine deutlich erkennbare Nähe zu den Einzelstelen traditioneller jüdischer Bestattungen.
5) Die Grabanlage der Familie Becker
Der Geheime Kommerzienrat Moritz Becker (Danzig 1830-1901 Heringsdorf), der als Hauptpächter des Schürfrechts an Bernstein die Bernsteingewinnung an der Ostsee um Königsberg brachial revolutionierte, wählte zur Anlage der Familiengrablege einen bevorzugt in Dresden und München wirkenden Architekten, dessen besonderes Aufgabenfeld der Theaterbau war: Martin Dülfer (1859-1942).
Die aus Muschelkalkstein gefügte Architektur mit der dominanten, marmornen Scheinvase im Zentrum besticht denn auch durch ihre theatralische Inszenierung als über Terrassen in die Höhe geführter Grabbau. Der strenge Jugendstilbau mit deutlichen Bezügen zur Wiener Sezession besticht durch die gut proportionierte Verbindung von Mode und jüdischer Tradition. Wie beim Grabmal der Familie Panowsky überzeugt die Simulierung von Einzelgrabmalen durch die gleichberechtigte Anordnung der Inschriftentafeln bei Wahrung eines geschlossenen Gesamtbildes. Der Magen David („Davidstern“) im Eingangsbereich deutet selbstbewusst auf die religiöse Haltung des Auftraggebers.
6) Die Grabanlage Mendel
Der Kaufmann und Industrielle Albert Mendel (1866-1922) begann mit der Produktion und dem Handel mit Kinderkonfektion, erweiterte zusammen mit seinen Geschäftspartnern die Firma Fischbein & Mendel um die Damenkonfektion. Eng verbunden war er dem Architekten Walter Gropius (1883-1969). Der Bauhausleiter entwarf die Inneneinrichtung von Mendels Wohnhaus am Lützowplatz und dessen Sommer-Villa in Wannsee bei Berlin.
Nach Mendels Tod erhielt Gropius den Auftrag zu seinem Grabmal. Er erreichte in dieser architektonischen Sonderform eine „schlichte Monumentalität“ mit Konzentration auf das Wesentliche und ohne jedes Ornament. Der Eindruck ungeheurer Modernität wird durch die asymmetrische Anordnung von fast abstraktem Scheinsarkophag und aufgebrochener Wandnische erzielt. Die klar designte Bronzeinschrift trägt zur ernsten Würde entschieden bei.
Die Nachschaffung der durch Diebstahl teilweise verlorenen Bronzelettern und die Restaurierung dieser Inkunabel der Moderne konnte mit Mitteln erreicht werden, die vom damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker bei zwei von Daniel Barenboim geleiteten Benefizkonzerten des Berliner Philharmonischen Orchesters eingeworben werden konnten.
Mit diesem sechsten Beispiel für die große Anzahl herausragender Grabkunstschöpfungen für jüdische Unternehmerfamilien soll dieser Vortrag schließen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!
Fotografien: Nicola Vösgen M.A., Dr. Jörg Kuhn, Dr. Hans-Jürgen Mende. Das Grabmal „Mendel“ wurde fotografiert von Pedro Moreia.