Spurensuche Kolonialer Sprengelkiez – deutscher Kolonialismus in Samoa und China

Warum gibt es im Wedding eine Samoastraße und einen „Pekinger Platz“? Aktuell wird in den Medien viel über deutschen Kolonialismus und Rassismus debattiert. Daher lud das Interkulturelle Gemeinwesenzentrum „Sprengelhaus“ in der Sprengelstraße 15 am 17. Juni 2020 zur Führung „Spurensuche Kolonialer Sprengelkiez“ ein. Etwa ein Dutzend Personen waren gekommen, um sich beim Historiker Stefan Zollhauser über die lokale Erinnerungskultur zum deutschen Kolonialismus in der Pazifikregion zu informieren.

Die erste Station war die Straßenkreuzung Samoastraße/Kiautschoustraße. Die Aktivitäten des Deutschen Reiches auf der Südseeinselgruppe Samoa und in Ostasien seien, so Zollhauser, noch längst nicht so bekannt wie die in Afrika und würden daher kaum thematisiert. „Deutsch-Samoa“ war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine deutsche Kolonie im westlichen Teil der Samoainseln. Die Inselgruppe liegt mitten im Pazifik zwischen Australien und dem amerikanischen Kontinent. Die deutschen Kolonialaktivitäten hatten wirtschaftliche Gründe. Denn die deutsche Regierung hoffte (letztlich vergeblich), arme auswanderungswillige Deutsche dazu zu bewegen, im klimatisch angenehmen Samoa zu siedeln, statt in die USA zu emigrieren. Auch Prestige und Machtpolitik spielten eine Rolle. Das deutsche Kaiserreich wollte als Kolonialmacht mit anderen europäischen Staaten gleichziehen. Deutsche Kolonialbeamte, Kaufleute und Missionare wollten die einheimische Bevölkerung vor allem zur profitorientierten Arbeitskultur – auch gegen deren Willen – „erziehen“, um den Anbau landwirtschaftlicher Produkte wie Bananen, Kaffee oder Tabak sicherzustellen. Die Beziehung zwischen Deutschen und Samoanern war durch Rassismus geprägt. Die Europäer fühlten sich den Inselbewohnern in jeder Hinsicht überlegen. Ihr Rassismus zeigte sich beispielsweise darin, dass „Eingeborene“ nach Deutschland gebracht und in sogenannten „Völkerschauen“ vorgeführt wurden.

In der Kolonie „Kiautschou“ an der chinesischen Ostküste richtete das deutsche Kaiserreich Ende des 19. Jahrhunderts einen Flottenstützpunkt für die kaiserliche Marine ein. Im Süden des Gebietes wurde eine ganze Stadt mit Namen Tsingtau neu erbaut – der europäische Stadtteil erhielt Gebäude in einem monumentalen, sogenannten wilhelminischen Baustil. Das Tsingtao-Bier erinnert noch heute an die Stadt. An der Straßenkreuzung „Samoastraße/Kiautschoustraße“ liegt die kleine Grünanlage „Pekinger Platz“. Weder hier noch bei den beiden Straßenschildern gibt es Erklärungen, beispielsweise auf Tafeln, zur kolonialen Vergangenheit Deutschlands im Pazifik und in China. Das Schild vor dem „Pekinger Platz“ behandelt die im Park nistenden Vogelarten. Der Name des Platzes, so Zollhauser, soll an die Niederschlagung des sogenannten „Boxeraufstandes“ erinnern. Gemeint ist der Krieg zwischen China und den Kolonialmächten, darunter Deutschland, in den Jahren 1900/1901. Anlässlich der Ausschiffung deutscher Truppen nach Ostasien gab Kaiser Wilhelm II. die berüchtigte Anweisung „Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht!“.

Am Nordufer entlang ging es zur nächsten Station, dem Robert-Koch-Institut. Der Mediziner und Nobelpreisträger Koch (1843-1910) hat nicht nur den Tuberkuloseerreger entdeckt und die Mikrobiologie mitbegründet. Er hat auch in „Deutsch-Ostafrika“ an Einheimischen, die an der Schlafkrankheit litten, Medikamente getestet, obwohl ihm die schädlichen Nebenwirkungen des verabreichten Mittels bekannt waren. Für die Kolonialisten stand jedoch die Aufrechterhaltung der Arbeitskraft der afrikanischen Bevölkerung in der Landwirtschaft im Vordergrund.

Über die Föhrer Straße ging es zur Amrumer Straße. Wir erreichten hier die letzte Station der Führung: das Virchow-Klinikum der Charité. Rudolf Virchow (1821-1902) machte nicht allein Bakterien für Krankheiten verantwortlich, sondern zeigte auch soziale Ursachen von Krankheiten auf, beispielsweise unhygienische, beengte Wohnverhältnisse und die Gesundheit beeinträchtigende Arbeitsbedingungen. Der Arzt war ein begeisterter Sammler von menschlichen Schädeln und Skeletten aus den Kolonialgebieten. An den menschlichen Überresten wollte er die Entwicklung vom „Naturmenschen“ zum „Kulturmenschen“ erforschen. Ethische Fragen stellten sich ihm nicht – auch wenn er erfuhr, dass Schädel heimlich aus Gräbern entwendet worden waren.

Die Ausführungen des Referenten machten eindringlich klar, wie wichtig ist es, sich mit deutschem Kolonialismus und Rassismus auseinanderzusetzen.

Erstmals veröffentlicht am 26. Juni 2020 auf weddingsweiser.de